Schotterreiß'n Supertrail
250hm in 40 Sekunden? Kein Problem im tiroler Kuschelschotter.
BIKE Magazin 04/2011 I Autor Harald Philipp
“Na, bist du schon mal Schotterreiß’n gefahren?” Martin hatte ein seltsames Funkeln in den Augen, als er mich das fragte. Er sah ein bisschen so aus, wie man sich den kleinen Teufel auf der Schulter vorstellt. Und er schien es wirklich ernst zu meinen, denn sein Blick ließ einfach nicht locker. Schotterreiße? Ich kannte nicht einmal das Wort.
Das war 2003. Martin Falkner ist seit jeher einer der wildesten Biker in Tirol. Ehrfurchtsvoll nannte man ihn schon damals den “Hausmasta”. Egal, wie gefährlich und ausgesetzt – es gibt wohl bis heute im ganzen Land keinen Pfad, den Martin nicht auswendig kennt. Ich war 2003 nur zu Besuch in Tirol und machte meine ersten Balance- und Steh-Erfahrungen im alpinen Singletrail-Biken. Schotterreißen, so lernte ich, sind Geröll-Hänge, die sich oft wie Teppiche unterhalb von Bergstürzen ausbreiten. Eine natürliche Aufschüttung lockerer Steine und Kiesel, gerne bis zu 45 Grad steil. Und eben genau so eine Schotterreiße war Teil der Tour mit Martin. Ganz ehrlich: Ich hatte Angst.
Doch damals wie heute geht es – Gott sei Dank – erst einmal bergauf. Wer in Tirol Spaß haben will, muss sportlich sein. Die Route führt durch die Wälder des Grünbergs zum stillgelegten Lift in Finsterfiecht und dann ganz schön steil und schweißtreibend weiter zum Zwischensimmering. Wem das gefällt, der kann sich auf einem Abstecher zur Simmeringalm mit noch mehr steilen Uphills foltern. Zur Belohnung lockt dann auf der Almhütte eine feine Jause. Wir hatten damals, bei meiner Erstbefahrung, leider schon gegessen und nahmen daher den kurzen Weg zum Trail-Einsteig – immerhin auch fast 800 Höhenmeter bergauf.
Auf der ersten Hälfte der Abfahrt kann man es richtig schön laufen lassen. Für Tiroler Verhältnisse zieht sich der Weg hier außergewöhnlich flach dahin. Der Abschnitt war damals schon genau nach meinem, von mitteldeutschen Flow-Strecken geprägten, Geschmack. Einfach dahinrollen und – wenn überhaupt – nur ganz sachte bremsen. Kurven statt Kehren und runde Wellen statt Absätzen und Stufen. Ein Prototyp von Trail. Wie gebaut für Biker. Während der Weg zum Spielen und Gasgeben einlädt, blitzt manchmal der Tiefblick ins Inntal auf. Wie ein kleiner Stromstoß schießt dann kurz Adrenalin ins Blut und flößt einem wieder den notwendigen Respekt ein. Doch dann öffnet sich der Wald und man steht plötzlich mitten im Steilhang. Hier jetzt runter? Der Hausmasta ließ damals keine Zeit zum Fragen und schoss direkt in die Falllinie. Staub und Kiesel flogen auf – weg war er. Okay …
Damals wusste ich noch nicht, dass man den Steilhang auch einfach auf flüssigem Trail in mehreren Kehren abfahren kann. Nur deshalb bin ich einfach hinterher. Heute würde ich nicht im Traum daran denken, diesen Spaß zu umfahren! Bei der Einfahrt bleibt einem immer erst mal der Atem stehen. Aber davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, das ist normal. Die Überwindung ist groß, das Befahren aber recht einfach. Wenn man sich vorstellt, man hätte Skier an den Füßen statt einem Bike, geht es sofort besser. Denn genauso fühlt es sich an: wie Skifahren im Powder. Während man etwa zehn Zentimeter tief im Schotter einsinkt, kann man allein durch Gewichtsverlagerung bremsen oder Gas geben. Mit etwas Übung funktionieren auch Kurven und sogar Wedeln. Der Schotter dieser Rinne ist vergleichsweise fein und lässt hohe Geschwindigkeiten zu. Geübte Schotterreißen-Fahrer schaffen die 250 Höhenmeter in knapp unter 40 Sekunden.
Unten angekommen, vollgepumpt mit Glückshormonen und einem Strahlen im Gesicht, brüllte ich damals meine Freude aus mir heraus und musste Martin umarmen. Noch nie hatte ich so etwas mit dem Bike erlebt.
Martin fährt heute noch krasser als früher und ist inzwischen mein bester Bike-Spezl. Denn diese Tour mit ihm hat mich damals so tief beeindruckt, dass ich nirgendwo anders mehr leben wollte als in Innsbruck. Seither ist diese Strecke meine Hausrunde – neben unzähligen anderen. Und manchmal zeige ich sie heute als Bikeguide meinen Gästen. Aber immer mit Martins Einführungssatz: “Na, seid ihr schon mal Schotterreiß’n gefahren?”